Die Ursprungssubstanz
Verwendung findet eine homöopathische (=potenzierte) Aufbereitung der gesamten Pflanze des Acker-Gauchheil. Eine Interpretationsmöglichkeit des Namens wäre wegen der Wetterempfindlichkeit („närrisches Kraut“, Gauch = ahd Kuckuck, Narr, Tor), da die Blüten sich schnell öffnen und wieder schließen. Auch öffnen sich die Blüten erst relativ spät am Vormittag, typischerweise zwischen 9 und 11 Uhr, je nach Sonneneinstrahlung. Anagallis sind also „Spätaufsteher“ im Pflanzenreich.
Sobald die Sonne stärker scheint, öffnen sich ihre Blüten sehr schnell – tatsächlich schneller als bei vielen anderen Pflanzen, schließen sich bei schlechtem Wetter aber auch unmittelbar, sobald Wolken aufziehen, die Sonne fehlt, es zu kühl wird oder Wind oder Regen drohen. Anagallis reagiert also außerordentlich empfindlich auf Licht- und Feuchtigkeitsveränderungen.
Zum lateinisch / griechischen Namen existieren mehrere, leicht voneinander abweichende Erklärungen. Bei Murphy heißt es, das griechische Wort 'Anagelao', zu Deutsch 'laut herauslachen' läge dem Namen zugrunde (s.a. unter 'Nomen est Omen'). Einer leicht abweichenden Deutung nach kommt der Gattungsname Anagallis aus dem Altgriechischen ἀνά (aná) = „wieder“ / „empor“ und ἀγάλλω (agállō) und bedeute „glänzen“, „strahlen“, „sich freuen“. Eine klassische botanische Deutung ist: „die Wieder-Glänzende“ / „die wieder Erstrahlende“. Damit meinte man, dass die Blüten sich bei Sonnenschein öffnen und bei Bewölkung sofort schließen – sie „strahlen wieder“, sobald die Sonne kommt.
Auch der Bezug zur Freude („sich freuen“) ist sprachlich korrekt. Damit ist die grundsätzliche 'Stoßrichtung' des Mittels in der mentalen Sphäre schon einmal gut umschrieben, auch wenn es teilweise und meinem Dafürhalten nach deutlich negativer klingt, als es dem aufmerksamen Behandler in der Praxis erscheinen mag.
Eine exzellente Zusammenstellung der traditionellen Anwendung von Ackergauchheil, inklusive der homöopathischen Verwendung, findet sich im Internet bei https://www.henriettes-herb.com/eclectic/madaus/anagallis.html . Dabei ist die Erstellerin Henriette Kress, eine Botanikerin aus Helsinki, Finland. 'Henriette's herbal is one of the oldest and largest herbal medicine site on the net. It's been online since 1995, and is run by Henriette Kress, a herbalist in Helsinki, Finland.'
• Murphy, Robin, Lotus Materia Medica, Health Harmony 2010, ISBN 8131908593
Klassische Literatur
Als erste Prüfung kann Anagallis auf eine lange Tradition zurückblicken, da es von Hahnemann zwischen 1820 und den 1830igern erstmals einer Prüfung unterzogen wurde. Schon damals fiel eine mentale Wachheit mit Ruhelosigkeit und Hautausschlägen, v.a. an den Händen, auf. Ein 'heiterer, wacher' und fast 'überaktiver Geist' und Intellekt wird in der klassischen Literatur oft beschrieben.
'Außerordentliche Heiterkeit des Geistes, mit Neigung zu Singen und zu Lachen.'
'Erwacht früh, den Kopf voll mit vielen Gedanken.'
Allen (eigene Zusammenfassung):
Bei allen finden wir ein starkes Augenmerk auf den charakteristischen 'Hautreaktionen besonders den explizit ausgeprägten Handekzemen ... trockene und raue Hände, die Haut dort löst sich ab und zeigt Risse' ... es finden sich auch 'Bläschen und pustulöse Ausschläge oder kleine wasserhelle Bläschen oder gelblich-eitrige Pusteln, die manchmal gruppiert stehen ... Eruptionen besonders auf dem Handrücken und zwischen den Fingern ... gelegentlich mit Juckreiz ... Brennen ... und Stechen' (dies entspricht einem klassischen dyshidrosiformen Ekzem-Bild). ... Risse an den Fingerspitzen ... typisch ist also der 'vesikuläre, pustulöse' und später 'nässende und dann krustige Charakter' mit klarem Bezug zu den Händen, 'Brennen, Stechen und starkem Jucken'. Gleichzeitig bestehen tiefe schmerzhafte Risse' und eine 'Verschlimmerung durch Wasser oder Feuchtigkeit'.
Vermeulen (eigene Zusammenfassung):
Bei Vermeulen ist ebenfalls die Haut – besonders der Hände und Finger zentrales Thema! Er legt ein Hauptaugenmerk auf vesikuläre Ekzeme der Hände mit kleinen, klaren Bläschen, die juckend und stechen und oft gruppiert sind und dyshidrosis-artig erscheinen. Gleichzeit besteht laut Vermeulen's Materia medica eine Tendenz zu Fissuren und einem Aufspringen der Haut, besonders an den Fingern, den Fingerkuppen und dem Handrücken. Dieses Auftreten ist zeitlich korreliert, nach den ersten Bläschen käme es zur raschen Bildung von Rissen. Gleichzeitig spricht er von nässenden Eruptionen, die nach einem Aufkratzen oder spontan nässende gelbliche Krusten bilden. Alle Hautsymptome werden durch Feuchtigkeit, Waschen, Wasser sowie Kälte und ein Arbeiten mit den Händen verstärkt.
Er hebt hervor, dass diese Kombination außergewöhnlich typisch ist und Anagallis daher ein unterschätztes, aber sehr pointiertes Hautmittel sei.
Vermeulens Beschreibung der Psyche von Anagallis-Patienten führt das weiter, was seit Hahnemanns Zeiten bekannt ist “Geistige Stimulation, Kreativität, Ideenfluss” sowie Anregung, Inspiration, geistige Lebendigkeit. Alles kann im Geist von Anagallis-Paienten aber auch zu einer Überaktivität mentaler Prozesse führen, der plötzlich aufkommende Ideen nicht mehr korrekt verarbeiten kann und deshalb in ein Gefühl geistiger Weite oder Leichtigkeit mündet.
Insgesamt beschreibt er auch ein Grundgefühl der Stimmungsaufhellung, die eine dauerhafte euphorische und lichte Stimmung produziert, sowie eine angeregte, heitere Geselligkeit mit anderen Menschen.
Eine (leichte) Reizbarkeit entsteht hierbei durch Unterbrechung und Störungen.
Das Urogenitalsystem zeigt eine erhöhte Empfindlichkeit und Reizung.
Vermeulen betont auch eine erhöhte sexuelle Erregbarkeit mit einem urethralen Jucken, einer Reizblase sowie leichten urogenitalen Entzündungen. In der modernen Homöopathie wird das oft als 'Überreizung des sensorisch-nervösen Systems' gedeutet.
Sankaran formt aus dieser geistigen Stimulation bei Anagallis ein für Anagallis bestimmendes Mittelthema, wobei es zu dem Mittel keine offizielle literarische Veröffentlichung gibt.
Bei Murphy lesen wir außerdem, wie wir es bereits kennen, von einer 'großen Heiterkeit' und einem 'aktiven Geist'. Auch gibtMurphy Coffea als direktes Vergleichsmittel an und bezieht sich auf die Aufgeregtheit und Freude, die sich in den Personen zeit, die eines der Mittel benötigen.
• Allen, T. F., Enzyklopädie der reinen Materia Medica, http://www.homeoint.org/allen/c/cop.htm
• Allen, H. C., Leitsymptome homöopathischer Arzneimittel, Herausgegeben, bearbeitet und ergänzt von Manfred Freiherr von Ungern-Sternberg, 4. Auflage, Urban und Fischer, München 2005
• Murphy, Robin, Lotus Materia Medica, Health Harmony 2010, ISBN 8131908593
• Sankaran, R. Seminar-Notizen / Mumbai-Lectures (unveröffentlicht bzw. kursintern)
• Vermeulen's Synoptic I, aus MacRepertory Pro for Windows 6.1.7
• Vermeulen, F. Concordant Materia Medica. Emryss Publishers, Haarlem 1994.
• Vermeulen, F. Synoptic Materia Medica I: Nature’s Materia Medica. Emryss Publishers, Haarlem 1992.
• Vermeulen, F. Synoptic Materia Medica II: Enhanced Clinical Extracts. Emryss Publishers, Haarlem 1996 (häufig einfach als “Synoptic 2” zitiert.)
• Vermeulen, F. Prisma: The Arcana of Materia Medica Illuminated. Emryss Publishers, Haarlem 2002.
• Vermeulen, F. The Concordant Reference. Emryss Publishers, Haarlem 2010.
Meine Erfahrung & Einordnung Primulaceae
Interessanterweise empfinde ich persönlich Anagallis sehr viel näher an z.B. Thea sinensis (moderne Bezeichnung Camellia sinensis), als an seinem nächsten botanischen Verwandten Cyclamen, das sich generell eher verlassen und wertlos fühlt. Anagallis hat im Mittelbild die Heiterkeit und geistige Stärke einer ganz anderen Gruppe von Mitteln, die wir eher als 'Aufputschmitteln', wie Thea, Ephedra, Piper-methysticum, Coffea oder auch Opium, Heroin und Cann-i kennen:
• Geist, Gemüt; witzig, geistreich (35): ... alco ARAN-IX BOS-S ... cann-i caps ... COFF cortiso croc ... dulc ephe-v ... hyos ... LACH ... OP ... sol-t ...STRAM ... thea ...
Tatsächlich ist es auch botanisch mit dem Tee verwandt, da beide Spezies zu den Heidekrautartigen (Ericales) gehören. Die Tee-Pflanze ist allerdings in einer anderen Familie untergebracht, hier den Theacea (früher in den Ternstromiaceae, die ersteren jetzt untergeordnet wurden.
Wenn man sich bei der Erstanamnese, oder auch bei späteren Kontakten zurücklehnt und überlegt, was für ein Mensch da vor einem sitzt, fällt dem Behandler eher ins Auge, wie clever, geistig regsam und belesen der Patient ist.
Folgende Rubrik half in einem Fall das richtige Mittel zu finden und ist damit für mich eine der zentralen Eigenschaften von Anagallis arvensis:
•Geist, Gemüt; Kraft, Stärke (Energiestatus); vermehrte Geisteskraft (70): ... alco ... anag anh ... BOS-S ... cann-i ... cod coff ... fl-ac ... herin ... pip-m ... thea ...TUB ...
Während mir eine solche Eigenschaft bei einem Menschen, der z.B. Cyclamen, einem anderen Primelgewächs in der Homöopathie benötigte, noch nie begegnet ist, erwartet man es auch eher bei den oben bereits erwähnten 'geistreichen/witty' Mitteln! Hierbei stehen natürlich auch Lachesis und Hyoscyamos weit vorne, wie auch Codeinum, das teilweise als anregende Droge im Alltag missbraucht wird, da es eine Vorstufe von Morphin ist und Morphin wirkt stark euphorisierend (tatsächlich werden etwa 5–15 % des Codeins in der Leber in Morphin umgewandelt). Insgesamt ist das also eine Gruppe von Mitteln mit einer euphorisierenden, ganz analog was wir bei einem Menschen erwarten, der ein solches Heilmittel als homöopathische Aufbereitung benötigt! Das sollte man immer vor Augen haben, wenn einem das Mittel vielleicht in einer anderen körperlichen Rubrik begegnet. Gleichzeitig findet sich auch die Hautausschlagssymptomatik v.a. der Hände in der Vorgeschichte des Patienten. Dann ist Anagallis eine sehr gute und vielversprechende Wahl!
Tatsächlich ist der Anag-Patient eher ein Nachtmensch, besitzt einen blitzgescheiten Verstand und ragt in seinem intellektuellen Verstehen weit über das hinaus, was man von seinem bürgerlichen Beruf erwarten würde. Dabei sind sind sie heiter gelaunt und sehen (im Idealfall) alles von der positiven Seite. Sie genießen das Leben, ohne dabei Grenzen zu überschreiten. Nach der Mittelgabe, also einem größeren Ausgleich, kann sie wirklich kein Wässerchen mehr trüben! Dabei finden wir auch die Eigenschaft des Spätaufstehens und entsprechend spät zu Bettgehens.
Nomen est Omen
In der klassischen Botanik hat das unter dem Namen Ackergauchheil bekannte Pflänzchen verschiedene Namen. Ich möchte hier wieder aus www.henriettes-herb.com zitieren:
'Namensursprung: Anagallis, der von Dioskurides gebrauchte Name der Pflanze, steht vielleicht im Zusammenhang mit ἀγαλλίς (agallis), das eine Irisart bedeuten soll, oder mit ἀγάλλειν (agállein) = schmücken. Linné leitete den Namen vom griechischen ἀναγελάο (anageláo) = ich lache, ab, da man dem Gauchheil im Altertum die Kraft, Melancholie zu vertreiben und Heiterkeit zu erzeugen zuschrieb. Richtiger mutet die Erklärung von Kratz an, daß der Name sich von ἀναλάλλις = die Bescheidene ableitet, da es sich um ein ganz bescheidenes Pflänzchen handelt. ...
Gähheil (Eifel), Goarteel. Die Blüte öffnet sich erst etwa um 9 Uhr vormittags und schließt sich bereits gegen 3 Uhr nachmittags wieder, daher die Volksnamen: Nainibleaml (Niederösterreich), Neunerle (bayerisches Schwaben), Nüni-Blüemli (Luzern), Zehniblüemli (Thurgau), Firobedblüemli = "Vier Uhr zu Bette" (Thurgau) ... Ful-Liese (Mecklenburg), Faule(s) Liesl (bayrisch-österreichisch), Fauli Gredl (Niederösterreich), Fulenzchen, Ful' Elschen, Faule Ma(g)d (Gotha). Nach den zierlichen, augenähnlichen Blüten heißt der Gauchheil auch Katza(n)äugla (Schwäbische Alb), Hühneraug (Schweiz: Waldstätten), Roti Henna-äugli (St. Gallen), nach deren roter Farbe Bluetströpfli (Schweiz). ...
Botanisches: Die kleine einjährige Kalkpflanze des Mittelmeergebietes ist dem Menschen fast in alle Erdteile gefolgt und bewohnt Schuttplätze und verlassene Äcker. Ihre 6-30 cm langen, niederliegenden oder aufrechten Stengel wie auch die kreuzweise gegenständigen, unterseits etwas punktierten Laubblätter sind in der Jugend dicht mit kurzen Köpfchenhaaren besetzt; später verkahlen sie. Ihre Blüte mit radförmiger, zinnoberroter, selten weißer oder lila Krone öffnet sich gegen 9 Uhr (= Neunerle). Bei bevorstehendem Regen sollen die Blüten auch tagsüber geschlossen bleiben. Frucht eine fast kugelige Kapsel mit halbkugeligem Deckel. Blütezeit: Juni bis Oktober.'
Repertorium
• Gemüt; ANGST; Brust, in der; abends; agg.; Bett, im (2): anag, bor
• Gemüt; AKTIVITÄT, Geschäftigkeit, Tätigkeit; allgemein; hyperaktiv (40): agar, ... anag, ... bell, ... cinnb, ... Coff, coff-t, ... med, ... phos, ...
• Gemüt; FURCHT; allgemein; Wasser, vor (34): .... anag, ... Hyos, ... Lyss, ... Stram, ...
• Geist, Gemüt; Vergnügen (17): aether anag ang ara-m cann-i carb-ac cod falco-p fic-i germ ilx-p leon lim-b-c phos sec thea til
• Gemüt; GEISTESKRÄFTE gesteigert; allgemein (22) / Geist, Gemüt; Kraft, Stärke (Energiestatus); vermehrte Geisteskraft (70): anag, anh, ars, calc, camph, cann-i, clem, cod, dig, eaux, ferr, hyper, lach, nat-m, nep, op, pip-m, sulph, thea, thuj, verat, visc
• Gemüt; FREUDE; allgemein; stört die Gedanken, beim Zuhören (1): anag
• Gemüt; GEDANKEN; Schwinden, Verlust der; Predigt, während einer (1): anag
• Haut; HAUTAUSSCHLÄGE; ringförmiges, kleieartiges Ekzem (1): anag
• Blase; Urinieren; verzögertes, muss warten, bis Urin anfängt zu laufen; Pressen; muss (68): ... ACETAN ACON ... ALOE ALUM alum-p anag ... APIS APOC ARG-N ARN BELL CACT cann-i cann-s ... CAUST ... CHIM ... TUB ...